ANDRÉ SALENTÉ:
"ROLF" 1996 BOOKLET, 16 Seiten, (aK, Frauenfeld), KANTON
THURGAU STAATSARCHIV
Auszüge:«Rolf» und sein
"Kreis"
Karl Meier war homosexuell oder, wie er selber gesagt hätte: homophil
ein Homoerot. Das wäre nicht erwähnenswert, hatte sich daraus nicht ein Lebenswerk
ergeben, das es, wie nun skizziert werden soll, im Grunde erst rechtfertigt, sein Leben
hier nachzuzeichnen.
Ob seine Adoptiveltern von der Veranlagung wussten, ist nicht bekannt. Meier selber litt
nach eigenem Bekunden zunächst aus religiösen Motiven darunter. «Es hat Jahre
gebraucht», sagte er 1963, «um mich zum vollständigen inneren Gleichgewicht
durchzurinnen. Heute glaube ich, dass die homoerotische Veranlagung im Schöpferplan
Gottes auch ihren Platz hat - nur kennen wir ihn noch nicht. Die Homosexuellen sollen
unter ihrer Veranlagung nicht leiden und sich nicht zweitrangig fühlen, sondern aus dem
ihnen zugewiesenen Schicksal ihre Lebensaufgabe erfüllen.» Und ein Jahr spater bekannte
er Irri Rahmen einer Diskussion über die Entstehung von Homosexualitat, die sogenannte
Verführungsthese widerlegend, er sei «als junger Schauspieler der standigen Strahlkraft
der Frau ausgesetzt gewesen» - V.V. Iasst grüssen! , «nie h[omo]s[exuell] verführt
worden und [...] denno~h h[omo]s[exuell]»
Man geht wohl kaum fehl in der Annahme, Meier habe sich spatestens in den
lahren In Deutschland <entdeckt> - urnso mehr, als Berlin damals das
Horrlosexuellerl-Eldorado Europas schlechthin war. Hier gab es eine vieltaltige
horriosexuelle Subkultur: Clubs, Bars, Cabarets sowie eine ins Kraut schiessende
Publizistik. Kaum verwunderlich, dass der talentrerte junge Mann frü~-ier oder spater
damit iri Kontakt karn, und das hiess in seinem Fall: rnit Ad~lf Brand (1874-1945). Brand
hatte noch vor der Jahrhundertwende die Leitschrift «Der Eiqene. Ein Blatt für mannliche
Kultur» qegründet. Obgleich sie vor dem Hintergrund seiner spat~ren Herausg~bertatigkeit
als unmittelbar einleuchtend erscheint, muss die In jüngeren Publikationen vorqebrachte
Behauptung, Meier sei Ende der 1920er lahre «einer der engsten Mitarbeiter Brands»
g~wesen, als falsch bezeichnet werden: <<lch ~-iabe in meiner Deutschlandzeit
1924-1932», schreibt er 1962, «llediglich] zwei kurze Essays geschrieben, die man eher
als <Leserzurchriften> betrachten kann, mich deswegen aber niernals als Mitarb~iter
von Adolf Brand nenn~n darf!» Falsch sei auch die Bchauptung, wonach er Brands Werk in
der Schweiz «weitergeführt» habe c<das hatte ja nur In Deutschland sein können
C...]. Ick habe 1942 das Werk einer lesbischen Frau weitergeführt und 1943 der
Zeitschrift den Namen <DER KRtlS> geqeben - das ist alles.»
Sehen wir zu: In Zürich war am 12. August 1931 der lesbis~he Damenclub
«Amicitia» gegründet worden, der zum 1. lanuar 1932 das erste Heft seines
«Freundschafts-Banners» herausbrachte; im November ging das Blatt wieder ein. Nachdem in
der Zwischenzeit der Schweiz~rische Freundschafts-V~rband homasexueller Frauen und Manner
gegründet worden war, kam die Zeitschrift ab Mitte April 1933 als «Schweizerisches
Freundschafts-Banner» wieder alle vierzehn Tage heraus. Als Herausgeberin fungierte Anna
Vock; das Blatt war von nun an und bis 1939 im freien Handel erhaltlich. An einem Zürcher
Kiosk kam ~s Ende April 1934, als es sich eben perfider Angriffe des c<Scheinwerfers»
ru erwehren hatte, Karl Meier in die Finqer. Noch nicht ahnend, «welche Verpflichtunqen
mir die nachsten lahre zuweisen würden», las er vorerst nur, «dass hier Kameraden und
Kameradinnen gegen geschmacklose und verleumderische Skandalblatter clinen ziemlich
aussichtslosen Kampf ausfochten I...]. Ich stellte mich sofort mit unsere Art sachlich
richtiq beleuchtenden Artikeln neben sie, weil ich spürte, dass gerade ein Künstler da
nicht aus bequemer und falscher Reserve sich heraushalten durfte.» Tatsachlich erschien
am 15. Mai 1934 Meiers erster Artikel, ein flammender «Appell an alle! », den Kampf
gegen Verleumdungen zu unterstützen: «[...] es geht um den Beweis, dass wir reine Hande
haben, dass nicht ein raffinierter ~~xus das Bindende zwischen uns ist, sandern Eros, der
ewig junge Gott, der Körper und Seele zu göttlicher Einheit fügen will.»
Meier nahm es schnell den Armel hinein, und zwar zünftig: Von nun an war
er praktisch in jeder Nummer des Blatts mit eigenen Beitragen vertreten; auch gehörte er
bald der Redaktion an, deren Kurs er zu bestimmen begann, ohne doch das letzte Wort zu
haben. "Ge-outet" hat sich Meier nie. So erschienen auch alle seine Artikel
unter Pseudonymen: «Rudolf Rheiner» (!), «Karl Pfenninger», «Gaston Dubois» u. a.,
spater dann vorwiegend «Rolf».
'1937-41 hiess das Blatt «Menschenrecht. Blätter zur Aufklärung gegen Aechtung und
Vorurteil», ging es doch darum, dem neuen Schweizerischen Strafgesetzbuch, das die
bisherigen kantonalen Strafrechte ablösen und die gleichgeschlechtliche Liebe unter
Erwachsenen legalisieren sollte, in der Volksabstimmung von 1938 zum Durchbruch zu
verhelfen. Das StGB kam durch und trat mit 1942 in Kraft. Nachdem die Schweiz mitten im
Krieg das liberalste Sexualstrafrecht Europas erhielt, wurde der kampferische Ton des
Blatts hinfällig. Nun ging es nach «Rolf» für die homosexuellen darum, nach der
strafrechtlichen Besserstellung auch die gesellschaftliche Akzeptanz zu erringen, eine,
wie er realistisch einschatzte, weit schwierigere Aufgabe, die viel Zeit und Kraft
beanspruchen würde. Vom strategischen Ansatz her dem «Weg» anderer Minderheiten «ins
Ghetto,, nicht unahnlich, setzte sich Meier von jetzt ab für die innere Starkung der
Randgruppe ein. Dass der Weg gleichzeitig in eine vollstandige Anonymitat führte, lag
schlicht daran, dass das Ausmass der homosexuellen Minderheit für den Aufbau einer sich
selbst genugenden Subgesellschaft eben doch nicht ausreichte. Dennoch hat sich Meiers
Konzept bei aller Widersprüchlichkeit letztlich bewahrt.
Weil die bisherige Herausgeberin des Blatts in finanzielle Bedrangnis
geriet, nahmen ihr Meier und ein als « Kreis» bezeichn~ter « Lesezirkel » von «
Kameraden» per 1942 die Last ab. S~gleich liess der neue Chef d~n Untertitel fallen; ab
194~ erschien die Zeitschrift in Übereinstimmung mit der Benennung des «Lesezirkels»
zurückhaltend-nichtssagend als «Der Kreis - Le Cercle» zweisprachig, ab August 1954 als
«Der Kreis - Le Cercle - The Circle» schliesslich gar dreisprachig. Wahrend sich die
bisherige Zeitschrift an Homosexuelle beiderlei Geschlechts gewandt hatte, richtete sich
die neue nur noch an die Manner. Für d~n deutschsprachigen Teil zeichnete fortan Meier
verantwortlich, wahrend Charles Welti (Pseudonym), den französischsprachigen b~treut~;
der englischsprachige Teil wurde ab 1954 von Rudolf Burkhardt (eigentlich Jung) redigiert.
Die Hefte, die zunachst zwanrig, spater bis zu sechzig Seiten umfassten, waren ohne
jeglichen Blickfang aufgemacht: den grauen Umschlag aus Halbkarton zierten lediglich das
Club-Signet, die griechische Ampel mit der sich zum Kreis schliessenden Flamme, und der
Name der Zeitschrift.
Spatestens ab Mitte der fünfziger lahre wurde die Zeitschrift um den
ganzen Erdball verschickt. Gleichwohl erreichte die Auflage nie mehr als 2000 Exemplare.
Das hatte zu tun mit zwei See(en in Meiers Herausgeberbrust: Nach der einen ging sein
Ehrgeiz dahin, eine qeistig möqlichst hochstehende Kulturzeitschrift zu machen - da die
eigenen Möglichkeiten bei allem Talent beschrankt blieben, Autoren von Rang für
honorarlos~s Schaffen aber nur ausnahmsweise gewonnen werden konnten, schon an und für
sich ein Ding der UnmögliLhkeit! Nach der andern sollten auch die Bedürfnisse der
einfacheren Leserschaft befriedigt werden. So war das Resultat denn zwangslaufig weder
Fisch noch Vogel: den einen zu hochstehend, den andern zu platt, den einen zu erotisch,
den andern zu prüde - und was der gegensatzlichen Empfindungen mehr sein mochten. Immer
wieder ins Schussfeld der Kritik gerieten insbesondere die seit 1943 publizierten
Zeichnungen und Aktfotografien. Als im Zuge der Enttabuisierung der Sexualitat in den
sechziger Jahren allenthalben freizügigere Herrenmagazine erschienen, ging es mit dem
«Kreis» bergab: Die Abonnenten liefen scharenweise davon; Meiers rigide
Herausgeberprinzipien hatt~n sich überlebt. Auf Ende 1967 musste die Zeitschrift ihr
Erscheinen einstellen. Was im personell ein Vierteljahrhundert lang fast unverandert
gebliebenen Zentrum des «Kreis» als vollstandiger Zusammenbruch, als Scheitern der sich
einst selbst gestellten Lebensaufgabe erlebt und erlitten wurde, prasentiert sich aus
zeitlicher Distanz viel eher als Einlauf ins Zi~l: Mit «Stonewall» formierte sich 1969
weltweit die moderne Schwulenbewegung, schafften die Homosexuellen endlich das kollektive
~oming-out, dessen Voraussetzung - die Starkung des Selbstvertrauens Meier mit seiner
jahrzehntelangen unermüdlichen Arbeit in der Anonymitat qanz wesentlich mitgeschaffen
hatte.
Für eine Inhaltsanalyse der Zeitschrift ist hier kein Raum, nur so viel:
Im «Kreis,> erschienen Kurzgeschichten, Gedichte, Referate zum Stand der Diskussion
über Homosexualitat in verschi~dE~nen VVissenschaftszweigen, RezE~nsionen, Fotografien
und Zeichnungen. Die Februar-Nummer enthielt stets einen Fastnachtsteil, wahrend Im
November «unserer Toten», d. h. berühmter Homophiler, gedacht wurde und im Dezember ein
VVeihnachtsheft herauskam.
Meiers Engagement für die hom~sexuelle Minderheit erschöpfte sich nicht in der
Herausqabe der Zeitschrift. So war er auch Leit~r der hinter der Zeitschrift stehenden
Vereinigung homosexueller Manner und organisierte Clubabende mit Kleinkunstdarbietungen
und Theateraufführungen gehobeneren Niveaus. Daru kamen Mask~nballe und
Tanzveranstaltungen, aber auch Weihnachtsfeiern. Sodann unterhielt der «Kreis» eine
Leihbibliothek, ein Buchantiquariat sowie einen Bilderdienst. Im Lauf der Jahre edierte
Meier überdies vier Bande «Der Mann in der Photographie» und einen Band «Der Mann in
der Leichnung». All das ware en détail noch zu erforschen. Ebenso Meiers Bedeutung als
Anwalt von in Schwierigkeiten jeder Art geratenen Homosexuellen. Seine ideelle, aber auch
materielle Hilfe muss immens gewesen sein. Da er von Arzten, Gerichtsinstanzen und Polizei
gleichermassen geschatzt war, dürfte seine Fürsprache von Hilfesuchenden ebenso begehrt
worden wie bei den Angesprochenen auf ein offenes Ohr gestossen s~in.
( ... )
Krankheit und Tod
Als der «Kreis» tnde 1967 eingestellt werden musste, sah sich Meier um sein Lebenswerk
betrogen, und der sonst so Unverwüstliche verrnochte die bittere Enttauschung nur
schlecht zu verbergen. Seinen Abschiedsartikel <(Das Ende vom Lied» schloss er mit der
Bemerkung, jetzt bleibe für seine Mitarbeiter und ihn nur noch das starke Wort Auqust
Strindbergs: «Durchstreichen - - und weitergehen!» Im Dezember 1970 erlitt er bei Pr~ben
der Zürcher Marchenbühne irn Theater am Hechtplatz - kurz vor der Premiere des eiyens
für ihn geschriebenen Stucks «Das Zirkus-Abenteuer» - eirien Schlaganfall: PIötzlich
wusste er seinen Tcxt nicht rnehr; kurze Zeit spater stel Iten sich crste Lah rn u
rigserschei n u ngen ein. Was folytc, war eir7 j~~ilr-eldil~es, dur-npfes
DaC-iir-1darrirnerr-i. Von seinem leberispartner Alfred Brauch li - Krankenpfleger von
Beruf als Privatpatient li~bevoll qepflegt, verstarb Meier am Abend des 29 Marr 1974 irn
Ziircher Krankenheim Kaferberg. 5eirlern Wunsch gemas~ wurde er ar-ri 3. April 1974 dUf
d~M Friedhof Sulqen zur letzten Ruhe bestattet.
Würdigung
KJrl Meier war ein seriöser, handwerklich vielseitig versierter, reitlebens von seinem
Beruf faszinierter, aber kein "grosser" Schauspieler. Letzteres zu werden, daran
hinderte ihn sowohl seine in allen Lebenslagen sich bewahrende kameradschaftliche Haltung,
die jegliches Konkurrenzdenken völlig ausschloss, als auc~-1 sein jahrzehntelanges
zeitraubendes Enyagernent für die Minderheit der Homosexuellen. Wer ein <grosser>
Schauspieler werden möchte, braucht nebst Talent - tllbogen und Zeit. Als Angehoriger des
leqendaren Cabaret Cornich~n gehörte Meier aber gleichwohl ru jenen Schweizer
Schauspielern, deren Namen ihrer mutigen politischen Haltung wegen ru Recht auch ~-ieute
noch immer wieder genannt werden. Die Schw~iz hat leuten wie i~-irn ausseror dentlich viel
zu v~rdanken.
Bedeutender als der Schauspieler Meier wdr jcderlfall~ für die <Provinz> der
Regisseur Meier Ohne Zweifel gehörte er zu den wichtigen Förderern eines eiqeristandigen
schweizerischen Volkstheaters irri 20. Jat-lr~-lundert. Mögen seine diesberuglichen
Leistungen aucti erst von künftiqer Forschung ~an~ ans Licht gebracht werden, schon jetzt
steht seinc kulturelle Bedeutung für deri Kantori Thurgau fest: Wahrend IJhrrehnten war
das yualitatsvolle thuryaui~c~-ie Vulkstheater rnit seinern Namen aufs engste verbunden.
Dass sein unentwegtes und nur zu oft zu seinem eiqenen NachteiJ uneigennütziges
Engagement 19~0 mit der Anvertrauung des kantonalen lubllaurrl~fe~t~piels honori~rt wurde,
~idt ihri denri auch tief gefreut.
Unbestritten von schweizerischer, ja internationaler Bedeutung war Karl
Meier als «Rolf», als Herausgeber der homosexuellen Kulturzeitschrift «Der Kreis»
(1942/43··-1967) und als Leiter der sich hinter dern Organ verbergenden Vereinigung
homosexueller Männer. Als «Rolf» hat Meier "Grosses" geleistet: sowo~-il als
Herausgeber und Redaktor sowie als Verfasser von Kurrgeschichten, Gedichten und
Betrachtungen, als auch - und das alles ware noch minuziös zu erforschen - in seiner
Rolle als Berater und Helfer seiner in Schwierigkeiten aller Art geratenen «homophilen
Kameraden». Mögen seine schauspielerische Laufbahn und sein Wirken als Regisseur mit dem
vorliegenden Aufsatz vielleicht genügend erhellt und gewürdiyt sein, seine tätigkeit
als jahrzehntelanger Kopf der homosexuellen Minderheit in der Schweiz ist es nicht. Da
bleibt noch vieles zu tun. 50 mag am Ende denn der Grabspruch auf dem schlichten Grabkreuz
in Sulqen recht bekommen: "Einer der liebte, stirbt nicht aus der Zeit» (Otto
Zarek).
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